Brief (Transkript)
Ernst Emmerich an seine Eltern am 07.05.1915 (3.2011.3530)
7.5.15.
Nun bin ich ganz faul geworden, ich sitze nämlich ohne andere Tätigkeit als Lesen u. Schreiben in der Revierkrankenstube. Aber erschreckt nur nicht; es ist nur ein leichter Schleimhautkatarrh, auf gut Deutsch ein Schnupfen, der mir diese nicht unangenehme Ruhe verschafft. So lese ich denn den ganzen Tag: Zola, Sirenkiewicz, George Ohnet, Chamberlains gestern angelangte Kriegsaufsätze, Faust, D. F. Meyer, Sven Hedin, Zeitungen u.s.f.u.s.f. Halt! in dieser schönen Reihe Chamberlain, Ohnet, Zola vergaß ich Tolstoi, der den Reigen unsrer Feinde vervollständigt. Aber Dresche kriegen sie doch allesamt, und wohlverdiente, insbesondere die Herren Engländer, die nicht einmal versucht haben unsere Kultur kennen und verstehen zu lernen, ehe sie begannen sie zerstören zu wollen. Von außen mag sich unsere Kultur ein wenig lyrisch, ein wenig weich ausgenommen haben, als sie aber draufschlugen wars Stahl, und sie werden sich ihre Schwerter stumpf schlagen an diesem Stahl, den ein Goethe, ein Hölderlin geformt, ein Schiller und ein Kant aber gehärtet haben. - Es ist erstaunlich, wie tief die Kantsche Ethik bei uns im Volke sitzt, ohne daß auch nur Einer etwas von Kant selbst wüßte. Durch Zufall fielen mir neulich 4 Kant-Biographien in die Hand, die mir in gewisser Weise Aufschluß darüber gaben. Kants persönlicher Einfluß muß nämlich ziemlich stark gewesen sein, so daß zahlreiche seiner Hörer seine Ethik unmittelbar als Lebensmaxime angenommen haben; und unter ihnen befanden sich wieder viele, die später ein langes fruchtbares Leben an der Spitze großer Erziehungsanstalten verbrachten, denen sie bewußt oder unbewußt den Stempel Kantischen Geistes aufdrückten.
Dazu muß man den nicht unerheblichen Einfluß Schillers u. Fichtes rechnen; da ist schon manches erklärlich. Die Hauptsache ist aber wohl, daß jene Ethik so deutsch ist, daß sie kaum gelehrt zu werden braucht, da es schon im Blute liegt. - Hier findest Du auch, liebe Mutter, die starken Quellen, aus denen jenes von Dir nicht verstandene „Aushalten“ emporquillt. Es ist nur selten wie Du glaubst, eine „Art Ekstase“ mit der man in den Kampf geht. Nein, das einzelne Gefecht, die einzelne Kampfhandlung, das ist unser Tagewerk, und wird meist ziemlich leidenschaftslos getan. Für uns ist der feindliche Schütze grade so gut wie ein Stück Holz, das wir treffen müssen, um unsre Pflicht zu tun. Daß es ein Mensch ist, kommt nur sehr selten zum Bewußtsein. Anders mag es bei erbitterten Nachtkämpfen sein, zu denen es bei uns aber noch nicht gekommen ist; da mag vielleicht die Lust am Kampf, die so schon ein starkes Wohlgefühl während des Gefechts erregt, zur Ekstase ausarten, das weiß ich nicht. Die Regel ist es jedenfalls nicht. Es ist vielmehr ein ruhiges Bewußtsein der Pflichterfüllung und zwar einer heiligen Pflicht, das soll heißen, einer Pflicht, die dem Einzelnen so selbstverständlich notwendig ist, daß er ohne jeglichen Beweis ihre Erfüllung unter Einsetzung aller Kraft für notwendig und selbstverständlich hält. Dazu kommt die uns Deutschen wohl auch eingeborene Gewißheit eines überirdischen Wertes der Persönlichkeit, der durch den physischen Tod nicht zerstört wird. Das liegt aber weit ab von unserm Schulchristentum, das statt von einer unsterblichen Seele im sterblichen Menschen lieber von dem unsterblichen Menschen reden sollte; das erstere ist schon zu abstract um gefühlsmäßig Gewißheit zu werden. - Darüber aber verlieren wir hier vorne selten einmal ein Wort, weil eben jeder dieselbe Gewißheit im Herzen trägt. Reden tun wir nur über kleine alltägliche Dinge, denn im Grunde hat diese große Zeit auch ihre Alltäglichkeit, die uns nun einmal das nächste und gemeinsame ist. Sein Heiligtum aber verschließt ein Jeder in seinem Herzen. - Nun weiter! Genau das, was ich hier sage, könnten die meisten deutschen Soldaten Dir sagen, und mir sagte es neulich ein Maurergeselle in prachtvollen Worten. - Das soll nämlich der Übergang sein zu einer zweiten Warnung vor der Idee, ich sei mehr oder besser als andere. Das ist nicht wahr. -
Daß Spitteler besonders bei Frauen u. jungen Leuten Glück gehabt hat, braucht man nicht jetzt erst höhnisch in die Zeitung zu setzen; er hat es nämlich selbst schon einmal gesagt und gemeint, das sei ein Beweis dafür, daß er leicht verständlich sei; man solle nicht zu tiefes bei ihm suchen. - Daß übrigens die Deutsch-Schweizer auf uns „Preußen“ nie gut zu sprechen waren, beweist die Geschichte L. F. Meyers u. a. mehr. Das Deutschsein haben sie in ihrer Kleinheit eben doch noch nicht ganz ergriffen. Deutsches Wesen haben sie deswegen doch an sich.
Schluß! Gruß! Ernst.
Ansicht des Briefes
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