Brief (Transkript)
Ernst Emmerich an seine Eltern am 03.11.1914 (3.2011.3530)
Kalisch 3.11.14.
Also mit dem Verladen gestern wurde es in letzter Minute Wasser, u. nun sitzen wir heute hier in der Handelshochschule (Dampfheizung) und sind alarmbereit wegen einer sagenhaften russischen Kavalleriedivision, die auf Kalisch marschieren sollte. Jetzt, abends, erzählt man sich schon wieder, sie sei geschlagen. Was nun wird, weiß erst recht keiner. Die Ruhe tut uns allen mal sehr gut. Auch die alten Leute leiden ziemlich an den Füßen, haben aber mehr moralischen Halt als die meisten der Freiwilligen, von denen ein gutes Drittel wohl schon wieder nicht mehr dabei ist. Das ärgert natürlich die Alten sehr, wenn sie sehen, wie die „Mutwilligen“ einer nach dem anderen abbauen, ohne erst bis zum äußersten gekommen zu sein, nachdem ein Teil derselben wirklich unverantwortlich frech geredet haben. - Ich persönlich bin von den Leuten einfach rührend nett aufgenommen worden; ich glaube teilweise, weil sie gesehen haben, daß ich die ersten schweren Stunden mich durchgebissen habe, wie sie es alle auch getan haben. Daß Alles, Soldaten wie Offiziere u. auch die hiesige Zivilbevölkerung, die sich hier in Kalisch schon deutsch fühlt, jammert sehr nach Frieden. - Hier hat der Krieg auch böse gehaust; die schönsten Teile ein jammervolles Brand- u. Trümmerfeld. - „Jeder hatte was er brauchte, und nun hat man kein Brod für die Kinder“ sagte weinend eine alte Frau, die uns Soldaten in ihrer Gutmütigkeit ihre Äpfel schenkte statt verkaufte. „Gebe Gott, daß bald Frieden ist“ hört man auf Schritt u. Tritt. - Hoffen wirs. - Der Tag in Kalisch war ein ungeheures Ereignis für unsre ausgehungerte Truppe.
Jeder stürzt sich auf alles Eßbare und zahlt jeden selbst den unverschämtesten Preis. Ich selbst warf mich voll Gier auf ein Brötchen mit Butter u. Schweizerkäse, und habe für Butter für ein Milchbrötchen heute früh 30 ₰ bezahlt. - Halbwegs anständigen Kaffee habe ich auch mal getrunken, und dann Obst, Tee, Brot, Kuchen, Schokolade und alle anderen tausend Sachen durcheinander „gefressen“ (muß man bei der Gier schon sagen). Es ist unerhört, wie brutal man dabei wird, wie ein Tier. Selbst obgleich wir in den letzten Tagen eigentlich gut u. reichlich zu essen hatten. Einfach der wilde Trieb alles mögliche zu essen beherrscht Einen. Bei andern kommt noch der Trieb zum Trinken u. Rauchen dazu, der die Leute vollends toll macht. - Denken könnt Ihr Euch, daß bei den Dauermärschen, bei denen man jeden Schritt u. Tritt bei den schlechten Wegen sich auf dem Boden aussuchen muß, und bei dieser Freßgier in den Städten tiefere geistige Eindrücke nicht vorkommen. Mag sein, daß bei Unteroffizieren u. besonders Offizieren, die doch viele Vergünstigungen haben, die Sache anders liegt. Ich selbst habe jedenfalls, abgesehen davon, daß größeres mir noch nicht geschehen ist, einen wirklichen Eindruck nicht gehabt. Daher meine knappen, wahrscheinlich recht langweiligen Nachrichten. Heute schreibe ich auch nur, weil sonst das bloße essen den ganzen Tag doch zu langweilig sein würde, da wir jetzt auch nicht mehr aus dem Quartier dürfen. Drei Stunden dauerte gestern der Stadturlaub, der zu den oben beschriebenen Orgien Raum bot. Seitdem sitzen wir hier drin u. langweilen uns. Hoffentlich schlafen wir nochmal in Ruhe hier, damit man das viele Essen in Energie verarbeiten kann. Denn wir „Reserve“ müssen eigentlich immerzu marschieren. Ihr seht wohl auf der Karte was wir umher wandern, immer ohne einen Russen zu sehen. Die Gewehre rosten dabei völlig ein.
Hier viel Landsturm, mit den erbeutete schönen Russenmänteln ausgerüstet, was seltsam aussieht. Von fern denkt man immer es wären Gefangene. - Gestern Eure erste Post, Karte u. Zeitungen vom 22.10. erhalten. Bin wohl u. harre, daß mal ein bissel Schokolade u. Speck u. Wurst kommt. Kein Rauchzeug.
Ansicht des Briefes
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