Brief (Transkript)
Ernst Emmerich an seine Schwester am 14.04.1915 (3.2011.3530)
Horodenka 14. IV.
Liebe Lisa, in Deinem letzten Packetchen fand sich wieder ein längeres Schreiben von Dir, das recht erfreuliche Nachrichten enthielt. Wenn Klein-Lottchen schon, recht lebhaft ist, so zeigt das entschieden Temperament an, u. wer das hat, wird sich ja von der Welt nicht unterkriegen lassen, weil er sich selber nicht totkriegen kann, weder seinen ehrlichen Zorn, noch seine lebendige Freude. Grüßt mir mein Nichtchen recht schön von mir. Hoffentlich kann ich sie bald einmal besuchen; den Bart habe ich mir dazu schon fein säuberlich zurecht stutzen lassen, so daß ich in der Tat einen ganz intelligenten Eindruck mache, wie mir ein in Horodenka vorhandener Wandspiegel verraten hat. Horodenka hat nämlich 15000 Einwohner, 2 Gymnasien (1 poln 1 ruthen) mehrere Kirchen verschiedener Konfession, Bahn, aber kein Straßenpflaster u. keine Kanalisation, so wenig wie selbst die vornehmsten Häuser einen – na sagen wir ruhig – Abort haben. Statt dessen giebts hier mehr Juden wie Einwohner, die sich nun eine wahre Wollust daraus machen, den deutschen Soldaten zu helfen, ihre hohe Löhnung klein zu kriegen. - Für Sprachstudien ist das Land ebenso fruchtbar wie für Bazillen; und neulich brachte ich in Erfahrung, daß die kleinen Kinder, wenn sie in die Schule kommen, (d.h. Volksschule) gleich mit 4 Sprachen tractiert werden. Daß da bei 6 Jährlein Schule nichts rechtes rauskommt, kann niemand wundernehmen.
Am interessantesten in dem Sprachkuddelmuddel ist das „Jiddisch, die allgemeine Umgangssprache aller Juden von Nordpolen bis in die Bukowina, vielleicht auch noch weiter. Hauptsächlich aus dem Deutschen entstanden, untermischt mit polnischen und hebräischen Brocken, eigner Formenbildung und – eigner Literatur, ja sogar Poesie u. Musik. - Dieser Dialekt (Jargon nennens die Juden selber) hat das Deutsche als Hauptgrundlage und bildet so den Grund, auf dem den Juden das Deutschsprechen so leicht beizubringen ist, was ja für uns hier in der ruthenischen Bauernbevölkerung zur Verständigung von größtem Nutzen ist. Aber Kultur? Stehlen, lügen u. betrügen tun sie alle, allerdings, wie aus ihren Äußerungen hervorgeht, nicht mit dem Bewußtsein etwas Böses zu tun. - Ein sonderbares Volk, die Juden, deren ganze nationale Stärke man erst hier erkennt, wo sie so zahlreich sind, daß sie ihre Eigentümlichkeiten nicht in einem andern Volke aufgehen zu lassen brauchten wie bei uns. - Sehr interessant war z. B. der Gegensatz im Schenken. Die Ruthenen, die doch eigentlich halbe Russen sind, ließen das Osterfest nicht vorübergehen, ohne nach alter Sitte einen Jeden zu bewirten der Ihr Haus betrat, u. einem jeden Vorübergehenden ein buntes Ei in die Hand zu drücken, eine wirklich herzliche, herzerquikende Freundlichkeit bei alle dem. Die Juden dagegen wenn sie etwas geben stets mit Rücksicht auf etwaigen Profit. - Es mag noch so sehr nach Geschenk aussehen; früher oder später bezahlst Du es doch, u. wenn sie dich um Ähnliches bestehlen sollten.
Soeben Störung; deßhalb muß ich enden.
Ernst.
Ansicht des Briefes
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